Ich habe unlängst im Akademietheater die beste, schönste, bewegendste Neuinterpretation der Winterreise (F. Schubert) von Oliver Welter und Clara Frühstück erlebt. Absolut zu empfehlen! Ihr könnt kleine Auszüge hier hören:
Archiv der Kategorie: Lyrik
Rose Ausländer – Briefe II
Dieses Gedicht von Rose Ausländer erinnert mich stark an die Kommentare heutiger Blogs – täglich schreiben einem (auch persönlich unbekannte) Menschen ihre Gedanken in die Kommentare!
Jeden Tag
kommt der Briefträger
und bringt mir
ein Stückchen Welt
Viele Unbekannte
erzählen mir
ihre Geschichten
schenken mir
Freundschaft und Liebe
Ihre Worte umarmen
meine Worte

aus: Rose Ausländer „Einst war ich Scheherezade“, Gesammelte Gedichte, Fischer 1988
Rose Ausländer – Sonne im Februar
Wir haben die Fenster
mit Schnee gewaschen
Helios atme sie trocken
Strähn
unser frostverästeltes Haar
mit dem Sonnenkamm
Freilich wir wissen
im Dornengarten
hast du schlafende Rosen begraben
bald wirst du sie wecken
kelchgerecht
für die Regentaufe
Wir werden Zeugen sein
Indessen blühn
farblose Eisblumen
auf dem Moosdach
verwesender Väter

aus: Wintergedichte, Reclam 2001, S. 69
Zum Tod von Friederike Mayröcker
Am 4. Juni, heute vor 4 Tagen, ist die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker verstorben. Für mich war sie eine außergewöhnliche Literatin und große Poetin, auch wenn ich nicht viele ihrer Texte wirklich geliebt habe. Zu spröde, zu schwierig sind sie auch mir meist gewesen. Dennoch, ihre leidenschaftliche, ja schon beinahe manische Beschäftigung mit der Sprache hat mich fasziniert. Und sie, die den Tod für eine Zumutung hielt, hat ihm 96 Jahre widerstanden. Ich präsentiere euch nun ein kleines Gedicht von ihr:
eines Lebensabschnittes Bestandaufnahme
in meinem Tornister
ein Thymianstämmchen
zwei Münzen
ein stumpfer Bleistift
zerknitterte Notizen
Keksbrösel
eine grüne Wäscheklammer
die Visitkarte einer japanischen Germanistin
ein zerbrochener kleiner Kamm
Dalís Ameisen auf einem verschatteten Notenblatt
Wer ein wenig mehr über Friederike Mayröcker erfahren will, kann eine wunderbare Sendung von Eva Schobel im Österreichischen Rundfunk noch bis Samstag Abend hier nachhören.
Sie wird ganz sicher niemals vergessen!

Kinder, wie die Zeit vergeht …
Manche von euch sind vielleicht noch voll berufstätig und denken noch gar nicht an die Pension. Andere warten vielleicht schon darauf, und wieder andere genießen sie bereits – die Pension. Elfriede Gerstl hat ein kleines, bösartiges Gedicht zu diesem Thema verfasst, und ich habe heute ein Foto dazu gemacht.
Gebrochen durch Statistiken
und in Fragebogen erfasst
ruhst du sanft
im Fernsehwinkel
bis dir die Rente winkt

Elisabeth Borchers: Märchen
Elisabeth Borchers: Märchen
Auf der Suche
nach etwas Schönem wie Schnee
ging ich leer aus
bis es des Wegs zu schneien begann
aus: Wintergedichte von Reclam, 2001
Vorsatz für 2021
Für die Zeit nach dem jetzigen Lockdown, nach dem social distancing, nach der Pandemie (hoffentlich bald im Jahre 2021) präsentiere ich euch einen Vorsatz von Erich Fried:
FESTER VORSATZ
Denn wir wollen uns
nicht nur herzen
sondern auch munden
und hauten und haaren
und armen und brüsten und bauchen
und geschlechten
und wieder handen und fußen
(aus Erich Fried: Es ist was es ist, Verlag Klaus Wagenbach 1989, S. 30)